32 Thesen
wider unevangelische Praxis.
Vorstehende Thesen wurden bis zur These 24 incl. von der Synode verhandelt und gebilligt. Für die Verhandlung der übrigen 8 fehlte es an Zeit.
- Evangelische Praxis besteht nicht darin, daß man nichts als Evangelium, sondern daß man Alles evangelisch handelt.
- Darunter ist zu verstehen, daß man, weil man die Rechtfertigung vor Gott, die Erneuerung des Herzens und die Früchte des Geistes nur vom Evangelium erwartet, bei allem was man thut, das Eine im Auge hat, nämlich das Evangelium in Schwang zu bringen.
- Eben deshalb wird bei evang. Praxis das Gesetz nicht etwa bei Seite gestellt oder durch Einmischung von Evangelium abgestumpft, sondern vielmehr mit um so größerm Ernst in voller Schärfe, aber in evangelischer Weise gehandhabt.
- Evangelisch wird das Gesetz dann gebraucht, wenn man es lediglich dazu gebraucht, dem Evangelio den Boden zu bereiten und den aus dem Evangelio frei erwachsenden Erweisungen des neuen Lebens die göttliche Richtschnur vorzuhalten.
Evangelisch wird das Evangelium dann gebraucht, wenn es Allen und unbedingt und unverkürzt dargeboten wird. - Es ist nicht evangelische Praxis, die Perlen des Evangelii vor die Säue zu werfen; noch viel weniger aber, sie in der Tasche zu behalten.
- Evangel. Praxis erläßt kein Iota von dem, was Gott erfordert; fordert aber nichts anderes und mehr, als Glauben und Liebe.
- Evang. Praxis fordert Beweisung des Glaubens und der Liebe bei Seelen Seligkeit; giebt aber über die einzelnen Erweisungen derselben nach Ziel, Maß und Weise kein Gebot.
- Ev. Praxis fordert Erfüllung auch des kleinsten Buchstabens im Gesetz; macht aber vom Halten des Gesetzes den Gnadenstand nicht abhängig.
- Ev. Praxis sucht der Wirkung des Evangelii durch das Gesetz zwar vorzuarbeiten, aber nicht nachzuhelfen; und weil sie die Früchte des Geistes allein vom Evangelio erwartet, so kann sie auf dieselben auch warten.
- Ev. Praxis hält Alles, was nicht aus dem Evangelio d. i. aus dem Glauben erwachsen ist, für keinen wesentlichen Gewinn; trägt deshalb lieber allerlei Mängel, Uebelstände und Sünden, als daß sie dieselben bloß äußerlich beseitigt.
- Ev. Pr. beschränkt die Seelsorge auf specielle Application des Gesetzes und des Evangelii; das Erforschen und Richten des Herzens überläßt sie dem Herzenskündiger.
- Ev. Pr. hält auf gute menschliche Ordnung; vielmehr aber auf christliche Freiheit und läßt deshalb Mitteldinge auch wirklich Mitteldinge bleiben, d. h. überläßt sie schließlich dem Gewissen des Einzelnen.
- Ev. Pr. ist treu im Kleinen, hat aber doch mehr das Große und Ganze im Auge, als das Einzelne.
- Klug sein, wie die Schlangen—sich in die Zeit schicken—sich vom Satan nicht übervortheilen lassen—jedermann allerlei werden, um allenthalben etliche selig zu machen—sind auch Stücke evangelischer Praxis.
- Ev. Pr. ist ebensoweit von antinomistischer als von gesetzlicher Praxis entfernt.
- Aus evangelischer Erkenntniß und Gesinnung sollte wohl evangelische Praxis fließen; thuts aber selten und langsam.
- Wir bleiben meist in Gesetzlichkeit stecken, oder fallen in antinomistische Schlaffheit. So fremd ist der Natur das Evangelium.
- Es ist Gefahr nach beiden Seiten; für uns bis jetzt noch mehr nach der gesetzlichen Seite hin.
- Von dem natürlichen Hange des alten Adam, dem Herkommen aus dem Pietismus u. a. abgesehen—bringt das schon unsere hiesige Lage und die nöthige Reaction gegen die herrschende Zuchtlosigkeit in Lehre und Leben mit sich.
- Oder wie viel sind ihrer, die nicht heimlich doch noch mehr Angst davor hätten, einem Unwürdigen die Güter des Evangelii zu spenden, als davor, dieselben dem Bedürftigen zu versagen oder zu verkürzen? Wem stände nicht sein Gewissen im Wege, nach St. Pauli Vorgang Allen Alles zu werden?—Wo es aber so steht, da findet sich sicherlich auch noch gesetzliche Praxis.
- Gesetzliche Praxis besteht nicht darin, daß man nichts als Gesetz, sondern Alles gesetzlich treibt, d. h. also treibt, daß man vor Allem darauf ausgeht, daß dem Gesetz sein Recht geschehe, und daß man durchs Gesetz oder gar durch Gesetze ausrichten will, was nur das Evangelium ausrichten kann.
- Je mehr nun dazu noch (wie das oft geschieht, wo das innerlich Treibende eigentlich noch das Gesetz ist) der treibende Eifer schlägt, der nicht einmal die Liebe die Königin der Gebote bleiben läßt, die Weisheit als Rathgeberin verschmäht, und selbst dann, wann er nur zu lehren, zu strafen oder zu ermahnen wähnt, doch eigentlich Zwang, und zwar den schlimmsten nämlich moralischen Zwang anwendet—je unevangelischer wird die Praxis.
- Unevangelisch-gesetzliche Praxis findet sich nicht bloß im Kirchen- und Gemeinde- sondern auch im Schul- und Haus-Regiment, so wie im brüderlichen Verkehr.
- Die noch am meisten vorkommenden Beispiele im Predigtamt, Seelsorge und Gemeinderegierung möchten folgende sein:a. in Predigten:
Durchgeißeln einzelner Sünden, Uebelstände oder gar nur persönlich mißliebiger Dinge—, Abmalen bekannter Sünden bekannter Personen; anstatt die bittere Wurzel aufzudecken, aus welcher alle bösen Früchte wachsen.—Bloßes sogenanntes Zeugniß-ablegen ohne eigentliche Belehrung und Vermahnung. Unnöthiges oder verfrühtes oder unerbauliches Polemisiren.—Ermahnen zu Buße und Glauben, anstatt das zu predigen, was Buße und Glauben wirkt.—Pietistisches Classificiren der Zuhörer— Verclausuliren des Evangelii—Vorwiegende Darstellung des Glaubens nach seiner heiligenden Kraft.— Verkündigung der Gnade Gottes nur um alsobald Forderungen darauf zu bauen.b. bei Beichte und heil. Abendmahl:
Als Bedingung der Zulassung mehr fordern, als zu heilsamen Gebrauch unentbehrlich ist.—Schulmäßiges Katechismus- und inquisitorisches Herzens-Verhör.— Aufsparung dessen, was etwa zu strafen ist, auf die Anmeldung oder Beichte.—Drohen mit Abendmahlsversagung als Zwang-, Schreck- oder Zucht-Mittel.—Abweisung außer bei erweislicher Unbußfertigkeit.c. bei Taufen:
Kinder von Irrgläubigen oder Gottlosen, die doch unter dem Schalle des Wortes leben, auch wenn dabei in kein fremd Amt gegriffen wird, entweder gar nicht, oder nur unter allerlei menschlichen Garantien taufen wollen.—Zulassung zur Pathenschaft auf gleiche Linie mit Annahme zum Sacrament stellen.d. bei Copulatione:
Grundsätzliche Verweigerung derselben bei Solchen, welche außerhalb der Gemeinde stehen, auch wenn dieselben nicht offenbar gottlos sind.—Peinliches Halten auf eine bestimmte Form der elterlichen Einwilligung und Verlobung.e. bei Beerdigungen:
Unbedingtes Versagen derselben bei Allen, welche nicht irgendwie zur Gemeinde gehören, oder doch den Besuch des Pastors begehrt haben.—Befolgung des Grundsatzes, daß man jedesmal die Seligkeit oder Unseligkeit des Verstorbenen öffentlich zu bezeugen, ihre Sünden zu strafen und die Gelegenheit zu benutzen habe, die Sünden und Gebrechen der Angehörigen anzustechen.f. in der Seelsorge:
Beständiges Hobeln und Feilen an Jedermann, bis Alles fadenrecht ist.— Annahme irgendwelcher Zuträgereien.—Einmischung in Haus-, Familien- und Ehe-Sachen außer bei offenbaren Sünden.—Aus einzelnen Worten und Werken über den Herzensgrund richten.—Anwendung moralischen Zwangs durch Uebertreibung u. dgl.g. in Gemeinde-Regiment und Kirchenzucht:
Uebertriebene Anforderungen bei der Anfnahme neuer Glieder.—Versagung oder peremtorische Zeitbestimmung für den gastweisen Mitgenuß der geistlichen Gemeinde-Güter, sonderlich des heil. Abendmahls.—Gebotmäßiges Auflegen gleichmäßiger Beisteuer, oder zwangsweises Taxiren der Einzelnen.—Anwendung der Zucht gegen Dinge, die nicht offenbare Totsünden sind, oder gar gegen selbstprovocirte Sünden.—Jemand schon um deswillen als einen im Verstand überzeugten aber böslich widerstrebenden behandeln, weil er gegen die angeführten Gründe nichts mehr anzuführen weiß, oder gar beistimmt.—Mehr auf Formgerechtigkeit des Processes, als auf Erreichung des Zwecks der Zucht sehen.—Alle etwa zu leistenden öffentlichen Bekenntnisse in gleicher Form und gleichem Grade der Oeffentlichkeit verlangen.—Das Bestreben, die Kluft zwischen denen, die in- und denen, die außer der Gemeinde sind, recht groß zu machen, anstatt den Gegnern und Draußenstehenden Brücken zu bauen.— - Gesetzliche Praxis, so viel an ihr ist, macht das Evangelium zum Gesetz, das Gesetz zum Zuchtmeister,—als nicht auf Christum, die Beichte zur Marter, die Seelsorge zur Hudelei, das Sacrament zum Zeugniß und Siegel, daß man—dem Pastor genüge, die christliche Freiheit zum bloßen Schein, die Kirchenzucht zur Gewissenspresse, das Volk kleinlich, peinlich, werkerisch pharisäisch und die Kirche zur Policeianstalt.
- Gesetzliche Praxis hat nur für die Blinden den Schein größerer Gewissenhaftigkeit, Tapferkeit und schnelleren Erfolges. Bei Licht besehen fehlt ihr der wahre Muth, Gott walten und Sein Wort wirken zu lassen; hre [sic] Gewissenhaftigkeit ist die eines irrenden Gewissens und sie selbst eins der größten Hindernisse der Wirkung sowohl des Gesetzes als des Evangelii.
- Keiner Kirche steht gesetzliche Praxis so übel an, als der evangelisch-lutherischen.
- Da, wo es gilt, die Kirche erst zu pflanzen, die schönen Ordnungen längst gepflanzter Kirchen ohne Weiteres für maaßgebend zu halten—ist nicht lutherisch.
- Es giebt genug Dinge, da wir nicht hindern können, daß man Anstoß an uns nimmt; geben wir keinen durch unnöthige Schroffheit in der Praxis.
- Machen wir getrost ein Ende mit aller unevangelischen Praxis; aber vergessen wir nicht: von gesetzlicher zu antinomischer Praxis ist bloß Ein Sprung.
- Antinomistiche Praxis will sich vor Gesetzlichkeit hüten und Alles mit dem bloßen Evangelio ausrichten. Ihr fehlt ab er, weil der Ernst des Gesetzes, so auch die Gluth des Evangelii. Darum ist schlaffes zuchtloses Wesen ihre Folge.
- Wo man aus gesetzlicher in antinomistische Praxis fällt, da ist übel ärger geworden.
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